Andere Minderheiten - Gymnasium
Nationale Minderheiten - eigentlich nichts Außergewöhnliches
Bearbeitet von Grenzgenial
Was ist eine Minderheit?
Der Minderheitenbegriff ist sehr vielschichtig. Jeder Mensch sucht in seinem Sozialisationsprozess bewusst und unbewusst seine eigene Identität. Diese individuelle Identität wird von verschiedenen Identitätskategorien bestimmt. Dabei spielt auch die Gruppenidentität eine Rolle, also das übergeordnete Selbstverständnis der Gruppen, welchen man sich zugehörig fühlt. Identität definiert sich demnach durch Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen oder zumindest durch Orientierung an denselben, durch individuelle Interessen und Ausprägungen und auch durch Abgrenzung zu anderen Gruppen bzw. Verhaltensmustern.
Minderheiten sind somit Gruppen, die sich durch bestimmte Charakterzüge von der mehrheitlichen Hauptlinie der Gesellschaft (Mainstream) unterscheiden. Dabei ist es wiederum individuell verschieden, wie viele Züge dieser Minderheitenidentität deren Angehörige annehmen. Wichtig ist auch, in welchem Maß und über welche Merkmale sich die Minderheit vom Mainstream abgrenzen will.
Was ist eine nationale Minderheit?
Um diese Frage zu klären, muss man erst den Begriff der Nation definieren. Als Nation versteht man im ethnologischen Sinn eine Volksgruppe, die durch verschiedene kulturelle Gemeinsamkeiten ein Gemeinschaftsbewusstsein entwickelt hat und sich somit von anderen Volksgruppen abgrenzt. Diese Gemeinsamkeiten können die folgenden sein: rein subjektives Zugehörigkeitsgefühl, Sprache, Territorium, Sitten und Gebräuche, Symbole, Geschichte, Religion, Wirtschaftsordnung und nicht zuletzt Verfassung und politisches System. Seit dem 19. Jahrhundert definieren sich die meisten Staaten als Nationalstaaten, weshalb der Kategorie der Nation nicht nur eine emotionale, sondern auch eine politisch-praktische Dimension zukommt.
Eine nationale Minderheit ist folglich eine Volksgruppe, die sich in mehreren der genannten Kategorien von jener den Staat repräsentierenden, meist den größten oder mehrheitlichen Anteil stellenden Volksgruppe unterscheidet.
Wie entstehen nationale Minderheiten?
In der Zeit, als sich Staaten in erster Linie durch ihre gemeinsame Obrigkeit definierten und ihre Grenzen weit weniger fest waren als heute, spielten ethische Zugehörigkeiten eine untergeordnete Rolle. Die Bildung scharf abgegrenzter Territorialstaaten erforderte Klarheit darüber, welche Bevölkerungsteile zur Nation gehören sollten und welche Gebiete man beanspruchte. Dabei gab es oft widerstreitende Interessen. Bei praktisch allen Grenzziehungen blieben Minderheiten zurück. Nicht die Menschen haben sich bewegt, sondern die Grenzen. Dies gilt erst recht für Volksgruppen, die keinen eigenen Staat durchsetzen konnten oder wollten oder sich erst durch Entfremdung von anderen Bevölkerungsteilen zur eigenständigen Nation entwickelten.
Eine alteingesessene nationale Minderheit wird als autochthone Minderheit bezeichnet. Daneben gibt es Gruppen, die durch Einwanderung in einem anderen Territorium zur allochthonen Minderheit geworden sind. Wenn diese seit mehreren Generationen als solche etabliert ist, wird sie ebenfalls als autochthone Gruppe angesehen.
Anders verhält es sich hingegen mit Angehörigen von Volksgruppen, die in jüngerer Zeit z.B. als Arbeitsmigranten oder als Flüchtlinge in ein anderes Land gekommen sind. Da sie auf bestehende Strukturen treffen, in der Regel mit Menschen aus vielen anderen Einwanderergruppen zusammenleben (und zwar meist in größeren Städten und dort multikulturell) und sie meist noch enge Verbindungen zum Herkunftsland haben, werden sie nicht als autochthone Volksgruppen betrachtet. Allerdings bilden auch sie ethnische Minderheiten und ihre Angehörigen sind durchaus ähnlichen Herausforderungen bei ihrer Identitätsfindung ausgesetzt wie die Angehörigen alteingesessener autochthoner Minderheiten. Inwieweit sich auch solche Gruppen zu fest verankerten Minderheiten entwickeln, wird die Zeit zeigen.
Warum stehen nationale Minderheit oft im Konflikt zur Staatsnation?
Der Nachteil des Nationalstaatsprinzips ist, dass hier von einer Einheit zwischen Staat und Volk in einem klar abgegrenzten Territorium ausgegangen wird. Dies gibt es jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen. Probleme entstehen jedoch erst, wenn es um Machtfragen geht: Dies kann passieren, wenn die Staatsführung die Minderheiten zur Assimilation zwingen will, wenn die Minderheit sich wirtschaftlich oder in der Ausübung ihrer Eigenheiten benachteiligt sieht, wenn die Minderheit ihrerseits einen eigenen Staat fordert oder wenn ein Nachbarstaat, dessen Kultur die Minderheit sich verbunden fühlt, deren Siedlungsgebiet für sein Territorium beansprucht. Kommt es als Folge eines Konfliktes zur Ziehung neuer Staatsgrenzen, entstehen zwangsläufig wiederum neue Minderheiten.
Es gibt keine einheitlichen Regeln für die Definition einer Nation oder einer nationalen Minderheit. Am wichtigsten ist schlichtweg die gefühlte Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe. Dies hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass einer Minderheit die bloße Existenz abgesprochen worden ist. In vielen anderen Fällen hat man versucht, durch Zwangsmaßnahmen bis hin zum Verbot des Gebrauchs der Muttersprache in der Öffentlichkeit die Minderheiten gefügig zu machen; dadurch wurden Konflikte meist erst richtig angeheizt.
Sind Minderheiten ein Problem?
Menschen haben sich kulturell schon immer unterschiedlich entwickelt. Die heutige Auffassung von abgegrenzten Nationen ist noch eine recht junge Erscheinung. Kulturen verändern sich im Laufe der Zeit. Nationalstaaten mit über Jahrhunderte gleichbleibenden kulturellen Eigenheiten und Territorien hat es bisher nicht gegeben.
In einer Welt mit immer schnelleren Veränderungen hat sich ein neuer Blick auf nationale Minderheiten eröffnet. Globale Verbindungen und Herausforderungen, multinational agierende Unternehmen, die weltweite Vernetzung mit zahlreichen Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten, ein immer enger zusammenwachsendes Europa und nicht zuletzt eine zunehmende Rückbesinnung auf regionale und lokale Eigenheiten stellen den Alleinvertretungsanspruch der Nationalstaaten als Hauptakteure der Weltgemeinschaft zunehmend infrage.
Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich für Minderheiten neue Chancen: Da sie in der Regel notwendigerweise viel Kontakt mit der Mehrheitsbevölkerung haben, sind sie praktisch automatisch mehrkulturell geprägt. Ihre Kulturkompetenz wird daher als - nicht zuletzt wirtschaftlicher - Vorteil gesehen. Auch in der umgebenden Mehrheitsbevölkerung wird der Mehrwert der Existenz von Minderheiten zunehmend anerkannt. Minderheiten werden im regionalen und lokalen Bereich als Bereicherung angesehen, die diesen Gebieten eine Besonderheit geben. Auch die Angehörigen der Minderheiten selbst wehren sich zunehmend gegen eine "Entweder-oder"-Definition, sondern betrachten ihre Identität als ein "Sowohl-als-auch" in Bezug auf die umgebende Mehrheit bzw. den sie beherbergenden Staat.
Herausforderungen für die Minderheiten
Doch auch für selbstbewusst auftretenden Minderheiten, deren Angehörige ein hervorragendes Verhältnis zur umgebenden Mehrheitsbevölkerung pflegen, gibt es Herausforderungen. Wie weit müssen sie sich von der Mehrheit abgrenzen, um als eigene Gruppe wahrgenommen zu werden? Besteht die Gefahr, dass man einige Unterschiede überbewertet und damit neuen Konfliktstoff erzeugt? Besteht auf der anderen Seite die Gefahr der Assimilation, wenn man sich allzu gut mit der Mehrheitsbevölkerung stellt? Kann das Bekenntnis zur Minderheit nicht doch zu Benachteiligung oder sogar Ausgrenzung führen?
In der heutigen Zeit, in welcher immer mehr Werte und Normen infrage gestellt und Traditionen immer seltener als selbstverständlich wahrgenommen werden, stellen sich für die Angehörigen von Minderheiten viele individuelle Fragen: Bin ich überhaupt anders als die Mehrheit, und wenn ja, will ich es überhaupt sein? Steht mir die Minderheiten-Identität im Weg, wenn ich einfach nur als ganz normaler Menschen angesehen und respektiert werden möchte? Kann ich eine Minderheiten- oder zumindest Bindestrich-Identität überhaupt langfristig durchhalten? Muss ich mit Abfälligkeiten rechnen, wenn ich mich zur Minderheit bekenne? Werde ich in den Augen anderer am Ende nur auf meine Zugehörigkeit zur Minderheit reduziert?
Doch gerade der individuelle Zugang ermöglicht auch viele Chancen: Habe ich nicht gerade Vorteile durch meine Gesinnung, macht das Bekenntnis zu einer Minderheit mit den damit verbundenen Erfahrungen einen nicht offener, kommunikativer und flexibler? Erhöhe ich nicht die Chancen für meine berufliche Zukunft, wenn ich meine Minderheiten-Identität und den damit verbundenen Mehrwert bewusst pflege?
Einige Beispiele für autochthone Minderheiten
Im folgenden werden einzelne alteingesessene Minderheitengruppen mit ihrer aktuellen Staatszugehörigkeit kurz vorgestellt. Nicht berücksichtigt werden Volksgruppen in Staaten, die sich ohnehin als mehrsprachig definieren (Belgien, Schweiz), und Gruppen mit starkem Regionalbewusstsein, die sich aber nicht selbst als nationale Gruppe ansehen.
Völker ohne Staat, in ihrer Region stark oder sogar die Mehrheit (Beispiele)
- Schotten im Vereinigten Königreich: mit oder ohne Scots oder Schottisch-Gälisch als Muttersprache; starke Bestrebungen zur Eigenstaatlichkeit
- Katalanen in Spanien: eigene romanische Sprache, wirtschaftlich stark, starke Bestrebungen zur Eigenstaatlichkeit
- Kurden in der Türkei, in Syrien, im Irak und Iran: jahrzehntelange Konflikte, immer wieder starke Bestrebungen zur Eigenstaatlichkeit
- Basken in Spanien und Frankreich: völlig isolierte Sprache, teilweise Bestrebungen zur Eigenstaatlichkeit, zeitweise gewalttätige Konflikte
Völker ohne Staat, relativ kleine Minderheit in ihrem angestammten Gebiet (Beispiele):
- Wepsen, Woten und Ischorer/Ingrier in Russland: heute nur noch sehr kleine Gruppen in der Region Ingermanland bei St. Petersburg, sprechen ostseefinnische Sprachen
- Sorben: noch einige Zehntausend in der Lausitz in Südostdeutschland, eigene slawische Sprache mit zwei Hauptdialekten (Nieder- und Obersorbisch) und vielen Traditionen
- Ladiner und Friauler: Völker mit eigenen romanischen Sprachen in Norditalien, und zwar in Südtirol/Trentino bzw. in Friaul/Julisch Venetien
- Krimtataren: älteste Bevölkerungsgruppe auf der von Russland beanspruchten ukrainischen Halbinsel Krim mit Turksprache
Völker ohne Staat, relativ kleine Minderheit in einem weit verstreuten Gebiet (Beispiele):
- Friesen: in Westfriesland (Niederlande) noch stark vertreten, in Ostfriesland (Niedersachsen) nur noch im Saterland, in Nordfriesland (westliches Schleswig) mit mehreren Dialekten und z.T. sehr kleiner Sprecherzahl
- Aromunen: verstreut in den südlichen Balkanländern lebend, mit einer romanischen, dem Rumänischen verwandten Sprache
- Samen: ursprüngliche Bevölkerung in Lappland im Norden Norwegens, Schwedens und Finnland und aus der russischen Halbinsel Kola, mehrere eigene Sprachen innerhalb der finno-ugrischen Sprachfamilie
- Sinti und Roma: in weiten Teilen Europas verbreitete, ursprünglich nomadisch lebende Volksgruppe, heute sehr heterogen, mit indoarischer Sprache; in vielen Ländern immer noch marginalisiert, in Schleswig-Holstein als schützenswerte Minderheit rechtlich verankert
Völker mit kultureller Verbindung zum Nachbarstaat, die in ihrer Region stark vertreten sind (Beispiele):
- Serben in den Nachbarländern: Nach dem Zerfall Jugoslawiens und den Bürgerkriegen 1991-95 blieben serbische Volksgruppen v.a. in Bosnien-Herzegowina und Kroatien zurück
- Ungarn in den Nachbarländern: Durch die Grenzziehungen von 1920 (Vertrag von Trianon) blieben viele Ungarn außerhalb der ungarischen Staatsgrenzen; die Ungarn in Rumänien zählen zu den größten europäischen Minderheiten
- Deutschsprachige Südtiroler: Durch die Grenzziehung von 1920 (Vertrag von St. Germain) musste Österreich das mehrheitlich deutschsprachige Süd-Tirol an Italien abtreten; die Volksgruppe stellt weiterhin die Mehrheit in der Region.
- Russen in den Nachbarländern: Nach dem Zerfall der Sowjetunion blieben viele Russen in den fortan selbständigen Republiken zurück, darunter den EU-Ländern Estland, Lettland und Litauen, ihr Verhältnis zu Russland ist individuell sehr unterschiedlich geprägt
Völker mit kultureller Verbindung zum Nachbarstaat, eher kleine Minderheit (Beispiele):
- Finnlandschweden: Vor allem im westlichen Finnland vertreten, auf den Åland-Inseln die Hauptbevölkerung; sprachrechtlich gut gesichert, aber abnehmende Tendenz
- Deutsche in Belgien: Durch die Grenzziehung von 1918/20 zum belgischen Staat gekommen, heute anerkannte Sprachgemeinschaft mit Amtssprachenstatus
- Slowenen in Kärnten: Nach den Volksabstimmungen von 1920 in Österreich zurückgebliebener Bevölkerungsanteil mit slawischer Sprache
Völker mit kultureller Verbindung zu einem weiter entfernt liegenden Staat (Beispiele):
- Deutsche in Siebenbürgen: Nach dem Zweiten Weltkrieg und erst recht nach 1990 stark geschrumpfte Minderheit, die seit Jahrhunderten im heutigen Rumänien gelebt hat; Rumäniens Präsident Klaus Johannis entstammt der Volksgruppe
- Burgenland-Kroaten: Seit mindestens drei Jahrhunderten im 1920 geschaffenen heutigen österreichischen Bundesland ansässige kroatische Volksgruppe, deren Sprache sich etwas vom Standard-Kroatischen abhebt
Wo würdest du die deutschen Nord- und die dänischen Südschleswiger einordnen, wo die Grönländer und die Färinger? Begründe Deine Antwort.