1918- 1920 - Gymnasium

Die Ziehung der Staatsgrenze 1920

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Deutsche Demonstration in Apenrade Foto: Deutsches Museum Nordschleswig

Die Ziehung der Staatsgrenze 1920

 

Das Ende des Ersten Weltkrieges und seine Folgen

Die Niederlage des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten im November 1918 eröffnete auch für das nicht am Krieg beteiligte Dänemark neue Möglichkeiten zu einer Grenzkorrektur. Wichtigste Kraft auf dänischer Seite war der langjährige Abgeordnete im Deutschen Reichtstag, der Redakteur H.P. Hanssen. Als Realpolitiker wandte er sich gegen dänische Forderungen nach Wiedereingliederung des gesamten alten Herzogtums Schleswig bis zur Eider unter der dänischen Krone. Stattdessen setzte er sich für eine Grenzlinie ein, mit der nur ein für Dänemark vertretbar großer – und kurz über lang assimilierbarer – deutscher Bevölkerungsteil zu Dänemark kommen sollte. Bereits mit der Apenrader Erklärung vom 17.11.1918 sprachen sich Hanssen und seine Anhänger für eine neue und haltbare Grenzziehung auf der Grundlage einer Volksabstimmung aus. Eine solche war bereits 1866 im Prager Frieden (§5) in Aussicht gestellt worden.

 

Die Regeln für die Volksabstimmung

Im Zuge der Friedensverhandlungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde in den Vertrag von Versailles der Passus aufgenommen, dass die deutsch-dänische Grenze mit Hilfe einer Volksabstimmung über die nationale Zugehörigkeit neu bestimmt werden sollte. Dabei galt für die erste (nördliche) Zone das Gesamtergebnis ohne Rücksicht auf regionale oder örtliche Unterschiede. Zu diesem Gebiet zählten die gesamten Kreise Hadersleben, Apenrade und Sonderburg, die nördliche Hälfte des Kreises Tondern einschließlich der Kreisstadt und einige Gemeinden im Kreis Flensburg nördlich der Fördestadt, darunter das Kirchdorf Bau und der Abzweigebahnhof Pattburg. Südlich dieser Linie, die bereits einige Jahre zuvor von H.V. Clausen als mögliche Staatsgrenze vorgeschlagen worden war, sollte gemeindeweise abgestimmt werden. Diese zweite Zone erfasste den Südteil des Kreises Tondern, einzelne Gemeinden im Kreis Husum und den Westen des Kreises Flensburg sowie die kreisfreie Stadt Flensburg, mit inzwischen 68.000 Einwohnern die mit weitem Abstand größte Stadt der Region. Für den Fall, dass es flächendeckend dänische Mehrheiten gegeben hätte, war ursprünglich südlich hiervon in einer dritten Zone eine gemeindeweise Abstimmung vorgesehen. Es durften alle Volljährigen mit Wohnsitz und Geburtsort im Gebiet abstimmen. Die endgültige Entscheidung oblag allerdings der internationalen Kommission, die während der Abstimmungszeit bis zur Übergabe des Gebiets an den jeweiligen Staat praktisch die Regierung über Nord- und Mittelschleswig führte. Die Kommissare dieses Gremiums (CIS) kamen von den Siegermächten Großbritannien und Frankreich und aus den neutralen Staaten Norwegen und Schweden.

 

Fakten

Historische Einordnung

  • Volksabstimmung bereits 1866 im Prager Frieden vorgesehen, doch 1879 aufgekündigt
  • Umbruch in vielen europäischen Staaten, Sturz mehrerer Monarchien (1917 in Russland, 1918 in Österreich-Ungarn und in allen deutschen Bundesstaaten)
  • Wirtschaftliche Katastrophenzeit nach dem Krieg
  • zahlreiche Grenzen wurden verändert, es entstanden neue Nationalstaaten, während die alten Kaiserreiche (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Russland) zerfielen
  • Demokratisierung in vielen Ländern (u.a. Frauenwahlrecht auch in Dänemark und Deutschland eingeführt)
  • Gründung der ersten Republik in Deutschland („Weimarer Republik“), die zunächst viele Krisen und Aufstände bestehen muss (u.a. Kapp-Putsch im März 1920)
  • „Osterkrise“ in Dänemark durch Absetzung der Regierung Zahle durch König Christian X.; danach zog der König sich auf rein repräsentative Funktionen zurück
Wahlplakate zur Volksabstimmung 1920 Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Der Wahlkampf um die Grenze

Mit dem Rückzug des deutschen Militärs und der übergeordneten deutschen Verwaltung aus dem Abstimmungsgebiet begann der Wahlkampf. Obwohl beide Seiten nicht zimperlich darin waren, Ängste vor der gegnerischen Seite zu schüren, blieb der Wahlkampf überwiegend friedlich. Da noch keine elektronischen Medien zur Verfügung standen, konzentrierte die Agitation sich auf Versammlungen mit Reden, ”Flagge zeigen”, Zeitungsbeiträge und vor allem Plakate. Diese zählen zu den markantesten Geschichtsdokumenten aus jener Zeit.

Demonstration zur Volksabstimmung in Apenrade 1920 Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Die Ergebnisse der Abstimmung

In der Ersten Zone stimmten am 10.2.1920 75% für Dänemark und 25% für Deutschland, wobei es deutsche Mehrheiten in drei der vier Kreisstädte (Tondern, Apenrade, Sonderburg) und in einigen Gemeinden im Süden der Zone gab (z.B. Hoyer, Tingleff, Gravenstein). Vielerorts gab es fast ausgeglichene Verhältnisse (z.B. in Lügumkloster). In weiten Teilen des ländlichen Nordschleswig gab es hingegen deutliche, oft über 90-prozentige dänische Mehrheiten. Für die Endauszählung zählte jedoch nur das Gesamtergebnis der kompletten Ersten Zone (En-bloc-Abstimmung).

In der Zweiten Zone wurde am 14.3. gemeindeweise abgestimmt, wobei es mit Ausnahme einiger Kleingemeinden fast immer klare deutsche Mehrheiten gab. In Flensburg stimmten knapp 25% für Dänemark, was zwar weit von einer Mehrheit entfernt war, aber aufgrund der Größe der Stadt mehr dänische Stimmen bedeutete als in Tondern, Apenrade und Sonderburg zusammen. Mit diesen Ergebnissen wurde die Clausen-Linie zur Richtschnur für die kommenden Grenzziehung.

Übersichtskarte über die Ergebnisse der Volksabstimmung 1920 Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Die Grenzziehung und die Folgen

Nachdem die Kommission entsprechend der Abstimmungsergebnisse die Zonengrenze als neue Staatsgrenze festgelegt hatte, galt es nun, die neue staatliche Ordnung in die Praxis umzusetzen. Einer der ersten Schritte war die Einführung der Dänischen Krone als Währung in Nordschleswig. Am 15. Juni wurde die I. Zone Teil des Königreichs Dänemark, während Mittelschleswig wieder der deutschen Souveränität übergeben wurde. Viele Deutsche empfanden diese Grenzregelung als ungerecht. Ein Kompromissvorschlag von Johannes Tiedje fand kein Gehör – dieser schlug eine nördlicher gelegene, geschwungene Linie vor, die beiderseits der Grenze etwa gleich starke Minderheiten hinterlassen hätte. Ebenso wenig konnten König Christian X. und konservative, aber auch liberale Kräfte einen dänischen Anspruch auf Flensburg oder gar ganz Südschleswig durchsetzen.

Notgeld mit Motiv der Tiedje-Linie 1920 Foto: Deutsches Museum Sonderburg

Für beide Seiten galt es nun, die praktischen Probleme und Folgen der Grenzziehung in den Griff zu bekommen. Die Gesetzgebung musste angepasst werden, teilweise mussten Übergangsregeln geschaffen werden, die administrativen Strukturen mussten ebenso dänischen Verhältnissen angeglichen werden wie die gesamte Infrastruktur. Dänischer Reichsminister für die nordschleswigschen Landesteile wurde H.P. Hanssen.

Obwohl die Grenze bei vielen Beteiligten umstritten blieb und sowohl in der Zeit des Nationalsozialismus und der Besetzung als auch noch in den ersten Nachkriegsjahren kräftig in Frage gestellt werden sollte [→ Kapitel XXXX], ist sie eine jener nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Staatsgrenzen geblieben, die bis heute ununterbrochen Bestand hat.

Beispiele: Niels Wernich und Abbauklassen

Werbefilm der Stimmberechtigte, aber nicht in den Abstimmungsgebieten wohnende, aufforderte zur Wahl zu gehen.

Fakten

Kurze Zusammenfassung/Zeitleiste

1918, 22.10.    Forderung des Reichstagsabgeordneten H.P. Hanssen nach Grenzkorrektur, nachdem erste deutsche Stellen Entgegenkommen signalisiert hatten

1918, 4.11.    Matrosenaufstand in Kiel und Wilhelmshaven gegen Fortsetzung des Krieges

1918, 6.11.    Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten, so auch in Sonderburg

1918, 9.11.    Ausrufung der deutschen Republik

1918, 11.11.  Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages in Compiègne

1918, 17.11.    Rede H.P. Hanssens im Apenrader Folkehjem, in welcher er über mögliche deutsche Zugeständnisse zu einer Grenzänderung berichtet

1919, 28.6.    Unterzeichnung des Vertrages von Versailles

1920, 10.1.    Inkrafttreten des Versailler Vertrages

1920, 10.2.    En-bloc-Abstimmung in der I. Zone, Dreiviertelmehrheit für Dänemark

1920, 13.3.    Kapp-Lüttwitz-Putsch in Deutschland gegen die Republik

1920, 14.3.    Gemeindeweise Abstimmung in der II. Zone, meist deutliche deutsche Mehrheiten

1920, 29.3.    Absetzung der Regierung unter C. Th. Zahle durch den König: „Osterkrise“

1920, 26.4.      Vorgezogene Folkstingswahl in Dänemark nach Osterkrise, Mehrheit für neue Regierung unter N. Neergaard, die aber künftige Grenze anerkennt

1920, 15.6.    Abzug der CIS, Übergabe Nordschleswigs an Dänemark

Info

Zum Weiterlesen:

Adriansen, Inge & Doege, Immo: Dansk eller tysk? Billeder af national selvforståelse i 1920. Apenrade 1992 (Sønderjyske billeder 3).

Adriansen, Inge & Schwensen, Broder: Fra det tyske nederlag til Slesvigs deling 1918-1920. Apenrade & Flensburg 1995 (Sønderjyske billeder 5).

Hanssen, Hans Peter: Et Tilbageblik. Kopenhagen 1931 f. (4 Bände).

Auge, Oliver: Die Haltung Deutschlands zur Nordschleswigfrage. In: Grenzfriedenshefte 1/2020, S. 17-30.

Jebsen, Nina: Als die Menschen gefragt wurden: Volksabstimmungen in Europa nach dem Ersten Weltkrieg. Eine Propagandaanalyse. Sonderburg 2013.

Jessen-Klingenberg, Manfred: Die Volksabstimmung von 1920 im historischen Rückblick. In: Grenzfriedenshefte. Nr. 3, 1990, S. 210–217. 

Rheinheimer, Martin: Grenzen und Identitäten im Wandel. In: Grenzen in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks. (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Band 42). Neumünster 2006.

Schultz Hansen, Hans: Die Schleswiger und die Teilung. In: Grenzen in der Geschichte Schleswig-Holsteins und Dänemarks. (= Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins. Band 42). Neumünster 2006.

Schultz Hansen, Hans: H. P. Hanssens historische Bedeutung. Zum 150. Geburtstag des Minderheitenpolitikers. In: Grenzfriedenshefte, 2012, Heft 2, S. 75–86.

Schultz Hansen, Hans: Genforeningen. Aarhus 2019.

http://www.vimu.info/general_04.jsp?id=mod_9_5

uva.

Foto: BDN